Die besten Bücher des Jahres von Münchner Autorinnen und Autoren – München

Wo anfangen, wo aufhören? Es gibt zahlreiche Bücher von Münchner Autorinnen und Autoren, die man in diesem Jahr hervorheben könnte. Mit Doris Dörries autofiktionalem Buch “Die Heldin reist” zum Beispiel lässt sich klug in die Ferne schweifen, mit Friedrich Anis Kriminalroman “Bullauge” dagegen München selbst erkunden. Christoph Poschenrieder hat in “Ein Leben lang” den Münchner Parkhausmord aufgearbeitet, während Benedikt Feiten für seinen Krimi “Leiden Centraal” über eine Leiharbeits-Mafia Fährten quer durch Europa folgt.

Moritz Hürtgen lässt seine Satire “Der Boulevard des Schreckens” in Taufkirchen abdrehen, während Krisha Kops’ Debütroman “Das ewige Rauschen” zwischen Isar und Indien flirrt. “Die wunderbare Ästhetik der Schonhaltung beim Ertrinken” hat Florian Weber vorgeführt, während der Debütroman “Im Zimmer ist Winter” von Natascha Berglehner Untiefen auslotet, die mit einem übergriffigen Schwimmlehrer zu tun haben. Die Vielseitigkeit an Themen und Formen der Literatur aus München soll auch die folgende Auswahl unter Beweis stellen.

Slata Roschal: Vom Nichtsein

Die Münchner Prosaautorin und Lyrikerin Slata Roschal bei der Verleihung der Bayerischen Kunstförderpreise im November.

(Foto: Florian Peljak)

Sein oder Nichtsein, das ist hier keine Frage: Slata Roschal hat ihren ersten Roman schließlich explizit “153 Formen des Nichtseins” genannt. Dessen junge Ich-Erzählerin ist mit der Familie aus Russland eingewandert und mit unzähligen Problemen konfrontiert: der Zerrissenheit zwischen Sprachen, Kulturen und Religionen, Geldnöten, Fragen nach Identität und weiblichen Rollenmustern. Slata Roschal erzählt davon in 153 Miniaturen – Erinnerungsfragmenten, Listen, Werbeanzeigen oder Dialogen – als Zeugnis einer Bewusstwerdung und Selbstermächtigung.

Ihr eindrucksvoller Splitter-Roman wurde denn auch vielfach gewürdigt: Er stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis, wurde auf der Liste “Bayerns beste Independent Bücher 2022” des Freistaats empfohlen und mit einem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. Denn Roschal gelingt es “scheinbar ohne Anstrengung”, so die Jurybegründung, “formal, sprachlich und thematisch neue, wichtige Akzente zu setzen”. Nichtsein war gestern, bedeutet das – und vielleicht heißt das nächste Buch ja: Haben und Sein.

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Roman, Homunculus Verlag, 176 Seiten, 22 Euro.

Martin Kordić: Vom Aufsteigen

Literatur-Tipps: Erzählt von Herkunft, Klasse und einer komplexen Liebesbeziehung: Martin Kordić.

Erzählt von Herkunft, Klasse und einer komplexen Liebesbeziehung: Martin Kordić.

(Foto: Peter Hassiepen)

Dies sei “eine der ungewöhnlichsten und staunenswertesten Liebesgeschichten, die ich seit langem gelesen habe”, sagte Denis Scheck als Laudator Anfang Dezember beim Münchner Tukan-Preis, den in diesem Jahr Martin Kordić für seinen Roman “Jahre mit Martha” erhalten hat. Dass es in dieser Liebe zwischen einem bildungs- und aufstiegshungrigen jungen Mann und einer älteren Professorin auch um Missbrauch und Ausbeutung geht, verschwieg Scheck nicht; Kordić habe “so schön wie präzise” von dem Preis erzählt, den sein Ich-Erzähler Željko für den Zugang zu Bildung und einem anderen Leben zahlen muss.

Denn das Leben von dessen aus dem bosnischen Kroatien stammender Herkunftsfamilie ist von harter Arbeit geprägt, von wenig Geld und einer tiefsitzenden Angst, in Deutschland nicht als “gute Ausländer” zu gelten. Kordić ist ein vielschichtiger Roman gelungen, in dem übrigens auch Michael Jackson eine Antwort gibt auf die schwierige Frage: Wer bin ich?

Martin Kordić: Jahre mit Martha. Roman, S. Fischer Verlag, 286 Seiten, 24 Euro.

Peter Probst: Jugend in den Siebzigern

Literatur-Tipps: Peter Probst erzählt vom Ausbruch aus einem engen Elternhaus in Untermenzing .

Peter Probst erzählt vom Ausbruch aus einem engen Elternhaus in Untermenzing .

(Foto: Stephan Rumpf)

Die Frage “Wer bin ich?” hat die Menschen zu allen Zeiten bewegt. Zum Beispiel eine Generation vor Kordić auch einen Münchner Jugendlichen, dessen Biografie eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Peter Probst aufweist. Der 1957 in München geborene Autor hatte bereits vor zwei Jahren anhand seines Helden Peter Gillitzer erzählt, “Wie ich den Sex erfand”, nun lässt er ihn – etwas älter, aber noch nicht sehr viel reifer – im Jahr 1974 als 16-Jährigen durch Untermenzing rumpeln.

Probsts Roman “Die wilde Wut des Wellensittichs” schildert nicht nur die Enge eines katholischen Elternhauses, das von einem schwierigen, vom Krieg geprägten Vater dominiert wird, sondern sehr komisch auch den (sexuellen) Aufbruch und Ausbruch eines Jugendlichen. Den Hintergrundsound dazu liefern Bands von den Bay City Rollers über Peter Gabriel bis zu Ton Steine Scherben – und insbesondere natürlich deren Lied: “Wir müssen hier raus”.

Peter Probst: Die wilde Wut des Wellensittichs, Roman, Verlag Antje Kunstmann, 320 Seiten, 24 Euro.

Annika Domainko: Grenzüberschreitungen

Literatur-Tipps: Wie lässt sich ein Begehren kontrollieren, das verboten ist? Annika Domainko erzählt luzide aus der Psychiatrie.

Wie lässt sich ein Begehren kontrollieren, das verboten ist? Annika Domainko erzählt luzide aus der Psychiatrie.

(Foto: Privat)

Die müssten da raus – das denkt man auch unweigerlich bei der Lektüre von Annika Domainkos Roman “Ungefähre Tage”. Nicht nur, weil ihr Debütroman – für den sie in diesem Jahr einen Bayerischen Kunstförderpreis erhalten hat – auf einer geschlossenen Station in der Psychiatrie spielt. Sondern vor allem, weil sich dort zwischen einem Pfleger und einer Patientin eine unheilvolle Affäre anbahnt. Domainko schildert die Entwicklung, die man auch als Missbrauch einer Abhängigen beschreiben kann, ausgerechnet aus der Täter-Perspektive – was ihren so reflektierten wie formbewussten Roman noch verstörender und eindringlicher macht.

Denn deutlich wird hier, wie fast unmerklich sich oft Übergänge vollziehen, bis ein Kipppunkt erreicht ist, nach dem es kein Zurück mehr gibt. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Wahn und vorgeblicher Normalität, zwischen Drinnen und Draußen sind jedenfalls nicht so eindeutig, wie wir glauben wollen.

Annika Domainko: Ungefähre Tage, Roman, C. H. Beck, 222 Seiten, 23 Euro.

Steven Uhly: Schuld und Vergebung

Literatur-Tipps: Und vergib ihnen ihre Schuld? Steven Uhly hat ein Kammerspiel über Missbrauch in kirchlichen Kreisen geschrieben.

Und vergib ihnen ihre Schuld? Steven Uhly hat ein Kammerspiel über Missbrauch in kirchlichen Kreisen geschrieben.

(Foto: Catherina Hess)

Um Schuld geht es auch in Steven Uhlys “Die Summe des Ganzen” – einem Roman, eher ein konzentriertes Kammerspiel, das tiefe Blicke in menschliche Abgründe wirft. Schon das Thema ist eine Herausforderung: Die Leser begleiten die Beichtgespräche eines spanischen Padre mit einem Mann, der seine pädophilen Neigungen offenbart – und werden soghaft hineingezogen in beider Gedanken- und Gefühlswelten. Irritationen beim Lesen bleiben nicht aus, vermeintliche Sicherheiten werden erschüttert, bis hin zu einer überraschenden Wendung.

Er wolle mit seinen Geschichten “Fragen, Zweifel und starke Gefühle verursachen”, sagte Uhly in einem SZ-Interview. Das ist ihm gelungen: Wer über das Böse und den (kirchlichen) Umgang damit nachdenken will, über Sünde und Vergebung, findet hier auf knappem Raum viel Stoff.

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Roman, Secession, 156 Seiten, 22 Euro.

Franziska Davies/Katja Makhotina: Osteuropa verstehen

Literatur-Tipps: Für ihr Sachbuch "Offene Wunden Osteuropas" wurden Katja Makhotina und Franziska Davies (von links) jüngst mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.

Für ihr Sachbuch “Offene Wunden Osteuropas” wurden Katja Makhotina und Franziska Davies (von links) jüngst mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Das Böse begreifen und bekämpfen – das geht nur, indem man sich damit auseinandersetzt. Und so sei noch ein letztes Buch empfohlen, das sich mit einer dunklen Thematik beschäftigt. Weil sie uns in diesen Zeiten des Krieges ohnehin nicht loslässt. Und weil es für unsere Gegenwart und Zukunft wichtig ist, die Hintergründe für die derzeitigen Entwicklungen in Osteuropa und damit die Vergangenheit immer noch ein bisschen mehr zu verstehen. Das Sachbuch “Offene Wunden Osteuropas”, in diesem Jahr mit einem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet, ist dafür gut geeignet.

Franziska Davies, Osteuropa-Historikerin an der LMU München, und ihre inzwischen in Bonn lehrende Kollegin Katja Makhotina sind zusammen mit Studierenden an vergessene Erinnerungsorte in unter anderem Polen und der Ukraine gereist, zu Gedenkstätten in Lwiw, Babyn Jar, Stalingrad oder Korjukiwka. Das Buch versteht sich als “Einladung, über die Lücken der deutschen Erinnerungskultur nachzudenken”, über die “Leerstellen der Erinnerung”. Und sie mit Wissen zu füllen.

Franziska Davies/Katja Makhotina: Offene Wunden Osteuropas. Sachbuch. Wbg Theiss, 286 Seiten, 28 Euro.

Dagmar Leupold: Lob der Empathie

Literatur-Tipps: "Jeder Mensch, auf den sein Blick trifft, geht ihn etwas an": Dagmar Leupold nähert sich einem Garderobier an der Oper.

“Jeder Mensch, auf den sein Blick trifft, geht ihn etwas an”: Dagmar Leupold nähert sich einem Garderobier an der Oper.

(Foto: Sven Simon/imago stock&people)

Wer seine Wahrnehmungsfähigkeit schult, kann den Schrecknissen des Lebens vielleicht besser begegnen. Dagmar Leupold richtet in ihrem Roman “Dagegen die Elefanten!”, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand, den Blick auf das scheinbar Abseitige und Beiläufige. Mit großer Wärme und feiner Sprache erzählt sie von einem Eigenbrötler, der am Leben vor allem als Beobachter teilnimmt: Herr Harald ist – womöglich in München – Garderobier an der Oper. Er wacht über die Mäntel, verkürzt sich die Stunden mit einem Italienisch-Grundkurs und Bonbons mit Eukalyptusgeschmack – und macht sich so seine Gedanken über die an ihm vorüberziehenden Besucher: “Jeder Mensch, auf den sein Blick trifft, geht ihn etwas an, so ist das.”

Und auch wenn dieser Herr Harald weiß, dass das Warten “bisweilen ein abschüssiger Zustand” ist, auch wenn die Einsamkeit immer wieder zwischen den Zeilen durchblitzt, ist dies doch ein leiser Roman über die gar nicht so selbstverständliche Fähigkeit, im Alltag den Kopf über Wasser zu halten – und seine Empathie zu bewahren.

Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten!, Roman, Jung und Jung, 266 Seiten, 23 Euro.

Katharina Adler: Münchner Hinterhöfe

Literatur-Tipps: Lob der Nachbarn in der Großstadt: Katharina Adler.

Lob der Nachbarn in der Großstadt: Katharina Adler.

(Foto: Friedrich Bungert)

Wie sich das Leben in einer Großstadt wie München meistern lässt – darum geht es auch in Katharina Adlers zweitem Roman “Iglhaut”. Ihre Protagonistin ist Mitte vierzig, fest in ihrem Viertel verwurzelt, dabei ein bisschen stachelig – eine “Iglhaut” eben, und so wird die Schreinerin auch gerufen. Ihr meist ungeschminktes Leben spielt sich rund um ihre Werkstatt im Hinterhof einer bunten Hausgemeinschaft ab.

Da sind Nachbarn wie die Supermarktkassiererin und Freundin Valeria, die junge Jasmina aus der betreuten Wohngemeinschaft oder das ewig streitende Ehepaar Zenker, mal kommt der Ex-Mann vorbei, mal muss die Iglhaut selbst zu Außenterminen bei den Eltern oder dem viel zu teuren und viel zu jungen Zahnarzt aufbrechen – von einer geschenkten All-inclusive-Reise nach Hurghada ganz zu schweigen. Unaufgeregt verplaudert erzählt Adler in diesem München-Roman Szenen aus dem richtigen Leben und Lieben und zeigt: Mit der nötigen Gelassenheit lässt sich das Glück schon finden – es liegt ganz nah.

Katharina Adler: Iglhaut. Roman, Rowohlt, 287 Seiten, 22 Euro.

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