Bayreuther Festspiele: Heute hat der Ring mit dem „Rheingold“ Premiere

Wenn in Bayreuth ein neuer „Ring“ aufgeführt wird, rappelt es in der Opernwelt. Da können sich alle anderen Häuser noch so sehr bemühen – die Inszenierungen im Festspielhaus elektrisieren. Und manchmal fließt sogar Blut. Auf der Bühne sowieso. Aber auch im Publikum. Peter Huth, der seit vielen Jahren die Festspiele besucht, wird in einem Live-Ticker über die „Ring“-Woche berichten – von Samstag, 30. Juli 2022, dem Tag vor der Premiere des „Rheingold“, bis zum 6. August, dem Tag nach der „Götterdämmerung“, dem Tag der Abrechnung.

8.14 Uhr – Nach zwei Jahren glänzt endlich das „Rheingold“

Guten Morgen aus Franken! Das Wetter noch etwas grau, doch im Frühstücksraum nur voller Vorfreude lächelnde Gesichter.

Als Katharina Wagner auf der Pressekonferenz 2019 Valentin Schwarz als Regisseur des nächsten „Ring des Nibelungen“ vorstellte, gingen wir alle noch davon aus, dass die Produktion ein Jahr später auf die Bühne kommen würde. Dann kam das Virus, 2020 fielen die Festspiele ganz aus, nur eine Schar Trotziger (ich auch) pilgerte trotzdem nach Bayreuth. 2021 waren Programm und Zuschauerzahlen deutlich reduziert. So hatte Valentin Schwarz (mit dessen Arbeit man auf dem Hügel sehr zufrieden sein soll, wie mir ein Waldvöglein sang) drei Jahre Zeit zur gedanklichen und konzeptionellen Vorbereitung auf das, was heute Abend endlich Premiere hat.

Um 18 Uhr startet das „Rheingold“, der Vorabend zum „Ring des Nibelungen“, also sehr streng genommen keine komplette Ring-Oper. Das Stück ist mit knapp 2,5 Stunden auch überschaubar kurz – daher der späte Beginn. Dafür gibt es keine Pause.

21.56 Uhr – Wir sind müde. Ja. Aber die Spielregeln von Bayreuth müssen noch erklärt werden

Richard Wagner schuf die Festspiele als Werkstatt: hier sollten die Besten ihrer Zunft und Ihrer Zeit seine Werke auslosten, inszenieren, aufführen. Vier bis fünf Jahre darf sich jedes Team aus Regisseur und Dirigent versuchen, dabei von Jahr zu Jahr verbessern und ändern. Es kann also sein, dass sich der Premieren-Zyklus einer Oper deutlich von der letzten Aufführung unterscheidet.

Zum Vortrag kommen nur die zehn großen Opern Wagners – vom „Fliegenden Holländer“ bis zum „Parsifal“. „Die Feen“ und „Rienzi“ werden in Bayreuth nicht gespielt.

1876, bei den ersten Festspielen, inszenierte Wagner noch selbst. Gezahlt hat er seinen Darstellern und Mitarbeitern nichts bis wenig. Nach seiner Ansicht war die Teilnahme an den Festspielen Ehre und Auszeichnung genug. Immerhin Kost und Logis gab es gratis.

Das hat sich grundsätzlich bis heute kaum geändert: Reich wird keiner der Künstler, die die spielfreien Sommermonate in Franken verbringen. Dafür gilt die Einladung auf den Grünen Hügel als Ritterschlag.

Morgen: Wer musiziert und wer nicht; warum der Dirigent, auf den alle zwei Jahre gewartet haben, fehlt; warum wir keine Felle auf dm Grünen Hügel mehr sehen, meine persönliche Alptraum-Inszenierung (wie es also wäre, wenn Facebook den Ring in Szene setzte), erster Tratsch aus den Proben; Genaueres über das „Rheingold“ und natürlich der erste Tag des neuen Rings!

21.20 Uhr – Bayreuther Seligkeit

Die Konversationsregeln in der „Lohmühle“ (und in allen Wagner-Hotels) sind ganz einfach: wenn man Nachbartisch so laut gesprochen wird, dass es am eigenen Tisch zu hören ist, gilt das als Einladung, sich ins Gespräch einzumischen. Weil viele Gäste schon so weit im Alter fortgeschritten sind, dass sie ohnehin sehr laut reden, ist das praktisch immer der Fall. Noch sind die Themen wenig heikel: Wespen, Krustenbraten, wo kommen sie her? Bald allerdings geht es schon sachte ans Eingemachte, über drei Tische hinweg.

Ja, also die Kosky-Inszenierung der „Meistersinger“! Der erste Akt war ja noch gut, aber dann, mit diesem großen Wagner-Köpfen. Wir wissen ja nicht. – Doch, ist sein Thema, muss er so machen. – Und der „Tannhäuser“? – Naja. Schon gewöhnungsbedürftig – Fand ich ganz hervorragend. – Ach, dann haben Sie sicherlich auch …

Dann geht es ganz schnell: wer hat was wann gesehen und wie hat man es gefunden. Die Inszenierungen der letzten Jahre werden durchgegangen, es geht über Bayreuth hinaus. Plötzlich stellt man fest, dass man mit einem Herrn, den man vorher noch nie gesehen hat, die „Parsifal“-Regie von Bernd Eichinger in der Berliner Lindenoper ganz hervorragend fand (bislang dachte man, man wäre der einzige gewesen und alle anderen hätten es fürchterlich gefunden). Abtasten ist das. Und nie angeben.

Bayreuth, ein geschützter Raum, ein Kokon.

19.48 Uhr – Der Ring für ganz eilige Leser

Machen wir es so lang wie nötig und kurz wie möglich. Das ist die Geschichte des Rings für ganz eilige Leser.

Alberich entreißt den Rheintöchtern das „Rheingold“, indem er der Liebe entsagt und schmiedet aus dem Geschmeide den Ring des Nibelungen. Wotan, der Obergott, luchst ihm das Geschmeide ab, verliert es aber an den Riesen Fafner, der fortan als Drache den Schatz hütet. Nicht ohne dass Alberich den Ring und alle seine zukünftigen Träger vorher verflucht hätte.

Um einen Heroen zu schaffen, der ihm den Ring wiedererlangen kann, begründet Wotan ein eigenes Heldengeschlecht, die Wälsungen. Allerdings durch Ehebruch. Das bringt seine Gattin Fricka auf die Palme und erschüttert Wotans Machtposition. Außerdem kommt es zum Bruch mit seiner Lieblingstochter, der „Walküre“ Brünnhilde. Die Wälsungen-Prototypen Siegmund und Sieglinde, überleben nicht lange, aber ihr durch Inszest genpooloptimierter Sohn „Siegfried“, der erste freie Mensch, erschlägt schließlich den Drachen Fafner, erringt Schatz, Ring und einen Tarnhelm.

Daran hat er aber wenig Interesse, umso mehr an seiner Halbtante Brünnhilde. Die schlummert, weil sie sich ihrem Vater Wotan widersetzt hatte (siehe oben), in einem Feuerkreis. Auf dem Weg, sie zu befreien, trifft Siegfried auf Wotan, zerschlägt seinen Speer, löst dadurch die Götterdämmerung aus und durchschreitet das Feuer. Er verliebt sich in Brünnhilde, sie sich in ihn. Er bekommt ihr Pferd, sie seinen Ring.

Auf Heldenfahrt gerät Siegfried kurze Zeit später an den Hof der Giebichungen, wo Alberichs Sohn Hagen für die Intrigen zuständig ist. Per Zaubertrank lässt er Siegfried a) Brünnhilde vergessen und b) diese (per Tarnhelm) von ihm für Hagens Halbbruder Gunter als Braut gewinnen und c) den Helden höchstselbst sich in die tumbe Gutrune verlieben. Die überraschte Walküre versteht die Welt nicht mehr, meldet Verrat an. Hagen bietet sich an, sie zu rächen und tötet schließlich in einem Komplott mit Gunter und Brünnhilde den Helden mit einem Speerhieb in den Rücken.

Wotan ist alles zu viel geworden, in tiefer Depression bereitet er die Verbrennung der Burg Walhall und den kollektiven Selbstmord der Götter vor.

Siegfrieds Leiche wird auf den Scheiterhaufen gelegt. Hagen ermordet Gunter im Streit um den Ring. In letzter Sekunde durchschaut Brünnhilde das Spiel und reitet auf ihrem Pferd Grane selbst ins Feuer – die Liebe siegt über den Erhalt der bekannten Welt.

Die steht bald in Flammen, der Rhein steigt über die Ufer, Brünnhilde wirft den Rheintöchtern den Ring zu, um den Fluch zu brechen. Hagen springt hinterher – und wird in die Tiefe gezogen. Der Fluch des Rings ist zwar gelöst, aber die Herrschaft der Götter ist für immer beendet.

18.24 Uhr – Fussball, CSD vorbei. Jetzt gilt’s der Kunst

Es war nur ein kurzer Bayreuther Traum, der vom Sieg gegen den HSV. 1:3 verlor die SpVgg an einem gar nicht mal so sommerlichen Samstagnachmittag, jetzt fluten die HSV-Fans die Innenstadt. Aber gesungen wird nicht, dazu war es zu knapp. Sie treffen auf die Übriggebliebenen des Christopher-Street-Days, der hier a) sehr kurz und b) vor allem ein Verkleidungsfest für fröhliche Jugendliche war. Was ja nicht unbedingt schlecht ist. Jedenfalls: jetzt gilt’s der Kunst. Morgen gehen die Festspiele mit der Ring-Premiere so richtig los. Ich versuche mich jetzt an einer überschaubaren und doch kompletten Zusammenfassung des Inhalts. Bis später.

17.13 Uhr – „Netflix-Ring“? War nicht so gemeint

Alle Augen sind auf Valentin Schwarz, den Regisseur des neuen Rings gerichtet. Wagners „Holländer“ war die erste Oper, die der erst 33-jährige Österreicher (und damit neben Patrice Chereau jüngste jemals zum Bayreuther Ring-Chef ernannte Regisseur) gesehen hat. Damals war er erst neun Jahre alt, ein lebensprägendes Erlebnis: Er studierte Musiktheaterregie in Wien, inszenierte „Turandot“, „Hänsel und Gretel“, „Cosi fan tutte“, „Carmen“ und „Die Banditen“ – aber noch nie Wagner. Dementsprechend groß war das Staunen, als Katharina Wagner ihn 2019 als Macher des damals für 2020 geplanten Rings vorstellte. Ein Novize auf dem Hügel? Gut, dass die Wagner-Urenkelin bislang mit der Wahl ihrer Gastregisseure fast immer ein gutes bis brillantes Händchen bewiesen hatte.

Was aber plant Schwarz? Viel wurde – das wäre auch unüblich – nicht verraten. Am Bayreuther Ring, so sagte Schwarz im Februar der dpa, fasziniere ihn, dass das Werk in nur einer Woche komplett aufgeführt werde. Dies gäbe „uns die Möglichkeit, ein Familienepos in vierteiligem Serienformat zu zeigen und diesen Figuren in ihren Verhältnissen und Versäumnissen durch die Zeitläufte zu folgen.“ Schnell war das Wort vom „Netflix-Ring“ in der Welt. Schwarz weiter: „Ich will eine Geschichte von heutigen Menschen, heutigen Figuren, heutigen Problemen erzählen – und keine von Göttern, Zwergen und Drachen. So sehe er das „Rheingold“ als eine Art „Pilotfilm, der viele Fragen aufwirft, vieles anteasert und gespannt macht auf das, was da noch kommt – auch, wenn man vielleicht noch nicht alles sofort einordnen kann.“

Einen ähnlichen Ansatz – was die Modernität betrifft – hatte Frank Castorf 2013 mit seinem Parforce-Ritt durch das 20. Jahrhundert gewählt. Und auch dort konnte man vieles noch nicht sofort einordnen. Ehrlich gesagt, bis heute nicht (Krokodil?).

Schwarz – so meine Vermutung – wird zugänglicher sein, straighter, leichter zu entschlüsseln. Filmischer eben. Vielleicht im Stil eines Mafia-Dramas wie die „Sopronas“? Als Geschichte rivalisierender Dynastien (wie „Game of Thrones“, nur ohne Trohne)? Düsteres Comig-of-Age wie „Stranger Things“? Politik-Thriller wie „House of Cards“? Morgen Abend wissen wir Bescheid – Hauptsache, es wird kein woker Kitschkram wie „Bridgerton“.

Doch vergangenen Sonntag die Entwarnung. Im Interview mit dem „Spiegel“ stellte Schwarz klar, missverstanden worden zu sein. „Netflix“ sei für ihn keine ästhetische Chiffre, sondern eine Beschreibung für die Sucht, die beim suchtartigen Erleben von Geschichten entstehen kann, gewesen. Und gebinget wird in Bayreuth auf jeden Fall.

Was er genau vorhat, wollte Schwarz den Kollegen nicht verraten (hätte ich auch nicht). Nur so viel: er plant, den Ring so zu erzählen, dass die Figuren tief ausgelotet, verborgene Motive aufgedeckt werden. Diese stecken in den Libretti der Ring-Opern aber vor allem in nicht szenischen, sondern in indirekten Erzählungen. Die werden wiederum häufig etwas zäh als reine Gesangsmono- oder dialoge inszeniert. Gibt es bei Schwarz vielleicht so etwas wie gespielte Rückblicke zu sehen? Das wäre interessant – und schon wieder ganz nah bei der „Netflix“-Ästhetik.

16.48 Uhr – Wer schlief wohl in meinem Bettchen?

In meinem Hotel hängt eine beeindruckende Widmungs-Galerie berühmter Bayreuth-Akteure. Wer wohl schon in meinem Bettchen geschlafen hat? Der Zimmergröße nach zu urteilen, niemand Superstarendes (gendert man das so?), höchstens eine Rheintochter und oder eine nachgeordnete Walküre. Wenn ich morgen nicht mehr schreibe, war es eine Wotanstochter, die mich nach Walhall entführt hat. Sie merken: Die Bayreuther Glückshormone machen albern. Ich gelobe Besserung.

Die strahlende Galerie ehemaliger „Lohmühlen“-Gäste

Quelle: Peter Huth

16.34 Uhr – Bayreuth führt!

Apropos neue Weltenordnung: Die SpVgg Bayreuth führt zur Halbzeit gegen den HSV mit 1:0.

15.56 Uhr – Darum geht es im „Ring des Nibelungen“

Angekommen, ausgepackt, durchatmen. Bevor wir uns morgen ins Abenteuer stürzen: Worum geht es überhaupt in der 16 Stunden langen Erzählung? Die Storyline kommt später. Hier geht es erst einmal um den Stoff, aus dem der Ring geschmiedet ist. Also: Was will der Autor uns eigentlich sagen?

Ja, es ist eine Familiengeschichte. Wotans Göttersippe auf der einen Seite, Alberichs Nibelungen auf der anderen, eine Story von Vätern, Söhnen und Enkeln. Und einer anstrengenden Ehefrau. Selbstverständlich wird auch der Unterschied zwischen Liebe und Lust verhandelt. Und es wird betrachtet, ob Geld glücklich macht, ob Geschwisterliebe okay oder vielleicht sogar der ultimative Weg ist, einen perfekten Genpool zu schaffen. Es geht auch um militärischen Gehorsam, um Ärger mit Handwerkern und deren Bezahlung, Konversation mit Vögeln, dem Frust von Adoptivvätern, Bruderzwist, Ehebruch und Seitensprung, der Revolution der Metallverarbeitung und um Krokodile. Letzteres bitte schnell vergessen, das war nur so eine Idee von Frank Castorf beim letzten Ring in Bayreuth. Hat bis heute niemand begriffen.

Kern der Handlung aber ist die Rechtsstaatlichkeit, oder in diesem Fall die Rechtsgöttlichkeit. Denn es ist die Geschichte des scheiternden Allvaters Wotan, der sich in bester Absicht (er wollte durch Gesetze, nicht durch Gewalt herrschen) ein derart komplexes Regelwerk auferlegt hat, dass er zunehmend merkt, dass er die Ansprüche, die er der Welt und ihren Wesen auferlegt hat, nicht erfüllen kann – und das auch nie wirklich (vor allem, wenn es um den Eheschwur geht) wollte.

Er erkennt, dass die Zeit für eine neue, freiere moralische Organisation der Welt gekommen ist. Eine, die von den Menschen bestimmt wird. Die stehen bei Wagner für wilde Reinheit, im Gegensatz zur göttlichen Ordnung. Man darf nicht vergessen: Wagner war zeitlebens ein Revolutionär. Kirche und Staat, also die Herrschaft der Institutionen, waren ihm zuwider – obwohl er König und lokalen Behörden ausgesprochen gerne Geld nahm, um sein luxuriöses Leben und vor allem sein Festspielhaus in Bayreuth zu finanzieren. Wagner war ein Mann mit vielen Gesichtern. Und auch einigen Fratzen. Auch dazu später noch mehr.

Symbolisiert wird der Niedergang des Rechtssystems Wotans anhand seines Speeres – einst vom jungen Gott aus einem Ast der Weltesche (die dadurch irreparabel beschädigt wurde) geschnitzt und mit magischen Runen versehen, die Verträge und Regeln verbindlich machen. Auch für den Gottvater selbst, so sehr er auch versuchte, sich den eigenen Gesetzen zu entziehen. Zerschlägt Wotan noch in der „Walküre“ mit dem Speer eine andere von ihm zur Manipulation des Weltgeschehens geschaffene Waffe, das Schwert Notung, ist es in der „Götterdämmerung“ Siegfried, der erste freie Mensch, der sich jenseits der göttlichen Regeln bewegt, der mit dem durch menschgemachte Super-Technik wiederhergestellten Schwert Wotans Speer zerschlägt – das ist die Götterdämmerung.

Am Ende des Rings ist der Fluch des Rings, ausgelöst durch den Raub des Rheingoldes am Anfang der Tetralogie, zwar aufgehoben, das Gold liegt nun wieder im Rhein. Doch es ist nichts mehr wie zuvor. Das mystische Zeitalter ist endgültig beendet. Götter, Zwerge, Riesen, all diese überirdischen Fabelwesen, und ihre Welt gehen unter. Ein neues Zeitalter beginnt – das der freien Menschen, die sich ihre eigenen Regeln und Gesetze machen müssen.

Das ist die Revolution im Ring, der Kern, aus dem das Opus geschmiedet ist. Später heute Abend wird berichtet, wie Richard Wagner das alles in eine spektakuläre Handlung verpackt – ganz grob. Genauere Inhaltsangaben der einzelnen Opern folgen dann an den jeweiligen Spieltagen: Morgen zum „Rheingold“, Montag zur „Walküre“, Mittwoch zum „Siegfried“ und am Freitag zur „Götterdämmerung“.

14.44 Uhr – Bayreuth bunt

Mit nur minimaler Verspätung endlich in Bayreuth angekommen. Die Verspätung war den HSV-Fans geschuldet, die die lange Reise in den Süden auf sich genommen hatten, weil sie hier in der ersten Runde des DFB-Pokals gegen die SpVgg Bayreuth (3. Liga) mal mit einem Auswärtssieg rechnen können. Der Taxifahrer berichtet von „tausenden Nordlichtern“, die seit dem Morgen die Innenstadt „unsicher machen“. Er selbst sieht sich lieber eine „gepflegte Götterdämmerung“ an. Könnte er eigentlich auch doch ins Stadion, beim HSV das ja oft aufs Gleiche raus. Dazu kommt der Christopher Street Day, auch heute. Und mittendrin wir Wagnerianer. Eine Stadt mit drei bunten Bühnen. Wohlan.

Ich richte mich derweil in der „Lohmühle“ in meiner 15-Quadratmeter-Kemenate für die nächste Woche ein. Und freue mich auf das erste fränkische Bier.

Der Blick aus dem Fenster des Tickerers

Der Blick aus dem Fenster des Tickerers

Quelle: Peter Huth

Das WELT-Büro Bayreuth

Das WELT-Büro Bayreuth

Quelle: Peter Huth

13.11 Uhr – Karten gibt es schon ab fünf Euro

Im Zug von Bamberg nach Bayreuth wird schon eifrig gesungen. Allerdings kein Wagner, sondern Fußball-Gegröle – der Zweitligist HSV spielt im DFB-Pokal gegen Bayreuth. So treffen sich im Regionalzug die Welten: Hier die Trikotträger, dort die Anzugleute.

In den Kommentaren zu diesem Live-Ticker wird auch schon diskutiert – wie üblich geht es dort auch um die Sinnhaftigkeit der Festspiele. Und die Kosten, natürlich die für „den Steuerzahler“.

Dazu einige Zahlen. Die Festspiele sind eine Ausnahme im deutschen Theaterbetrieb. Sie finanzieren sich zu 60 Prozent aus Eigenmitteln, also durch Eintrittskarten, Rechte für Übertragungen, Merchandise. Zum Vergleich: In anderen deutschen Häusern liegt die Quote bei durchschnittlichen 20 Prozent.

Woher kommt der Rest des Geldes? Ein Drittel zahlt der Bund, ein weiteres der Freistaat Bayern, das letzte Drittel teilen sich die Stadt Bayreuth, der Bezirk Oberfranken und die „Gesellschaft der Freunde Bayreuths“ – also die Hardcore-Fans. In absoluten Zahlen sind das insgesamt in der Regel weniger als zehn Millionen Euro. Allerdings: Die notwendigen Sanierungen am Festspielhaus bezuschusst der Bund mit weiteren rund 170 Millionen Euro in den kommenden Jahren.

Und für wen das Ganze? Rund 58.000 Menschen sehen die Festspiele pro Jahr (im vergangenen Jahr wegen Corona nur die Hälfte) vor Ort auf dem Grünen Hügel. Sie zahlen zwischen fünf und 433 Euro, je nach Sitzplatz und Zyklus. Der „Tristan“ wird in dieser Saison zweimal gespielt, der Ring drei Mal, „Tannhäuser“ und „Holländer“ vier Mal und fünf Mal der „Lohengrin“. Tatsächlich sehen und hören die Opern aber tausende Menschen in aller Welt. Es gibt Radioübertragungen und einen Livestream. Die Daten dazu gibt es später in diesem Ticker.

11.55 Uhr: Bayreuth – was bisher geschah

Kurz vor dem Umstieg in Bamberg noch ein kurzer Rückblick. Die Festspiele laufen schon seit Anfang der Woche. Die Eröffnung war bereits am Montag mit Roland Schwabs Neuinszenierung von „Tristan und Isolde“. Ein gefeiertes Dirigat von Markus Poschner, ein verträumt-romantisches Bühnenbild von Piero Vinciguerra und eine etwas statische Personenregie von Roland Schwab begeisterte die Premierengäste. Hier die Rezension von Manuel Brug. Er erklärt auch, warum es in Bayreuth im ersten echten Nach-Corona Jahr gegen alle Gepflogenheiten neben einem neuen Ring noch eine zweite Neuproduktion gibt – es war eine Absicherung gegen möglichen Corona-Ausfall des Rings. Wacklig ist so ein Festspiel selbst in abklingenden Pandemiezeiten noch. Und einiges brachte das Virus tatsächlich zum Einsturz. Dazu später noch mehr.

Also: Nach dem bejubelten „Tristan“ und ein wenig Spießerempörung in den sozialen Medien über die Auftritte („Dafür haben die also Zeit“, „Alles Schnorrer“, „Wie sehen die denn aus?“) auf dem (wie üblich mit Merkel, Gottschalk, Söder und neu im Programm Ricarda Lang überschaubaren) roten Teppich am Premierentag folgte eine fast einwöchige Pause mit – gelungenem – Nebenprogramm. Aber ohne Oper. Freilich nicht ohne Drama.

MeToo hat Bayreuth erreicht. Mehrere mitwirkende Frauen berichteten über sexuelle Übergriffe auf dem Hügel. Einige handgreiflich, andere Verbal. Zuerst hat der „Nordbayerische Kurier“ berichtet. Festspielchefin Katharina Wagner bestätigte Vorfälle, auch ihre Person betreffend, die sie allerdings abwehren konnte. Sie habe „sehr, sehr deutliche“ Antworten gefunden.

Wer Wagner kennt, weiß, dass man sich mit ihr besser nicht anlegt. Ganz grundsätzlich, übrigens.

Andere Frauen konnten das nicht oder trauten sich aus Angst um ihre Jobs nicht. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen und auch die Festspiele kündigten Konsequenzen an. Das ist richtig, den Schatten über die diesjährige Saison aber kann das natürlich nicht nehmen. Auch darüber wird noch zu reden sein.

Vorerst aber gilt´s der Kunst – und zwar in der Inszenierung des neuen „Ring des Nibelungen“ von Valentin Schwarz. Morgen Abend um 18 Uhr ist es so weit.

11.14 Uhr: Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!

Ich freue mich! Es hat tatsächlich noch mit den Karten für den „Lohengrin“ am kommenden Donnerstag, also zwischen „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ geklappt. Schreibt mir gerade Franziska Emmerich von den Bayreuther Festspielen. Von der Inszenierung durch Yuval Sharon und der Ausstattung von Neo Rauch war ich 2018 geradezu überwältigt. Ich bin gespannt, wie sich die Produktion entwickelt hat.

10.21 Uhr: Auf dem Weg ins vollkommene Glück

Wer Loriot zitiert, kann kaum etwas falsch machen. Darum hat auch er hier das erste Wort (und wird auch das letzte haben). Auf die Frage, was für ihn das vollkommene Glück sei, antwortete er: „Bayreuth (Ankunft)“ – Und auf die Nachfrage, was das größte Unglück sei: „Bayreuth (Abfahrt)“. So geht es mir auch – seit vielen Jahren. Zum Wagnerianer wurde ich durch eine flirrende Sommerliebe mit einer musikalischen Seelenszwillingsschwester, die allerdings nicht Sieglinde, sondern Annemarie hieß. Auf jeden Fall in dem Text, den ich vor einigen Jahren für die WELT am Sonntag schrieb.

Nun sitze ich im ICE 703 Richtung München, in Bamberg steige ich um. So die Bahn will – und noch gibt es keine Verspätung – bin ich um kurz vor zwei in Bayreuth, ziehe meinen Koffer zum Bahnhof in Richtung der guten, alten „Lohmühle“, meinem Lieblingsquartier. Einen Tag vor dem „Rheingold“ – denn diesen Vorlauf brauche ich, um vorsichtig einzutauchen in diese eigene, zauberhafte, fast mystische Welt, in der sich alles um Richard Wagner, seine Musik, seine Texte und deren Umsetzung auf der Bühne dreht. Und zwar alles!

Die Familie habe ich in diesem Jahr zuhause gelassen. Vier Opern (vielleicht fünf, wenn es noch mit einer „Lohengrin“-Karte klappt) und ein Konzert in sechs Tagen – das ist ein Vollzeitjob, ein Tieftauchgang in das größte Musikdrama der Geschichte und seine Entstehung. Nur durch volle Konzentration, volle Aufmerksamkeit erringt man den höchsten Genuss.

Ich lade Sie ein, mich auf dieser Reise zu begleiten, ob Sie nun schon Wagnerianer sind, es werden wollen oder Wagner-Skeptiker oder gar – Hasser sind. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich: worum es geht, wird erklärt, für eilige Leser und solche, die tiefer eintauchen möchte.

Was Valentin Schwarz aus dem „Ring“ macht, erzähle ich in den Pausen nach jedem Akt. Falls Sie in Bayreuth sind: Ich bin der Mann im Smoking, Laptop auf dem Schoß und einem Glas in der Hand. Sprechen Sie mich gerne an! Oder schreiben Sie Kommentare. Ich freue mich! (Auch über den Hinweis, dass die Bezeichnung „Kanzlerin“ für Angela Merkel eher protokollarisch zu verwenden ist).

Denn zu Bayreuth gehört die Diskussion. Vieles, was ich in den Pausen und nach den Opern schreibe, werden andere Rezensenten ganz anders sehen. Total anders. Diametral entgegengesetzt. Und sicher werde ich nach nächtlichem Überdenken und träumerischer Verarbeitung auch mal mit Kopfschmerzen über das, was ich geschrieben habe, aufwachen.

Das ist der Spaß an der Sache.

Für die gedruckte WELT berichtet mein geschätzter Kollege Manuel Brug, dessen Texte ich Ihnen sehr empfehle. Er ist der Profi (vor allem, was die musikalische Bewertung betrifft), ich der glühende Laie.

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