Angriffe in Brasilien: Das sagt die Presse zum Sturm der Bolsonaro-Anhänger

Der Sturm der Bolsonaro-Anhänger auf das Regierungsviertel in Brasilien hat ein lautstarkes Echo in der nationalen und internationalen Presse ausgelöst.

Nach dem Sturm radikaler Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro auf das Regierungsviertel in Brasília ist die Lage in Brasilien nach wie vor angespannt. Rund 1500 Bolsonaro-Anhänger sind vorläufig festgenommen worden, Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva versprochen, diejenigen zu ermitteln und zu fassen, die hinter der Aktion stecken. Die deutsche und internationale Presse ist sich in ihrem Urteil über den mutmaßlichen Drahtzieher einig: 

Bolsonaros Hoffnungen auf einen Flächenbrand in Brasilien

“Lausitzer Rundschau” (Cottbus): Während in der Hauptstadt Brasilia Tausende Bolsonaro-Anhänger, darunter auch ein gewalttätiger Mob, versuchte das Parlament, den Präsidentenpalast und das Oberste Gericht zu erstürmen, schwieg Bolsoanro in seinem selbst gewählten “Exil” in Florida. Er hätte seine Anhänger stattdessen aufrufen können, ja sogar müssen, die Übergriffe sofort zu beenden und die Verfassung zu respektieren. Doch Bolsonaro wartete ab, hoffte offenbar, dass sich aus dem Sturm ein Flächenbrand entwickelt. Doch die Militärs blieben in den Kasernen, die Armee machte bei diesem Anschlag auf die Demokratie nicht mit. Die dubiose Rolle der Polizei gilt es noch zu untersuchen. Damit hat sich Bolsonaro für jede weitere politische Karriere disqualifiziert, ein Comeback auf demokratische Weise ist nun undenkbar.

“Rhein-Zeitung” (Koblenz): In den USA werden sich die Gerichte hoffentlich bald mit der Rolle Trumps bei dem mutmaßlichen Putschversuch vom 6. Januar 2021 befassen. Die Ermittler im Kongress hatten dem Justizministerium die Strafverfolgung dringend ans Herz gelegt. Anders Jair Bolsonaro, der sich in Florida de facto dem Zugriff der brasilianischen Behörden entziehen kann. Die Einreise des Ex-Präsidenten war schon vorher problematisch. Spätestens seit dem Aufstand seiner gewaltbereiten Horden am Sonntag, die dem Drehbuch Trumps folgten, sollte er eine Persona non grata sein. Der mutmaßliche Anstifter des Aufstands von Brasília verdient keine zweite Chance in Florida, sondern einen rechtsstaatlichen Prozess in seiner Heimat.

“Nordwest-Zeitung” (Oldenburg): So erschreckend die Bilder aus Lateinamerikas größter Demokratie sind – überraschend sind sie nicht. Sie sind frei nach Trumps Drehbuch. Der “Tropen-Trump” Jair Bolsonaro hat diesem Sturm den Boden bereitet: Schon zu seinen Zeiten als Präsident hat der rechtsextreme Ex-Militär die Waffengesetze gelockert und die Armee gestärkt. Er zog schon Monate vor der Wahl das Stimmabgabesystem in Zweifel, er wetterte gegen den Kongress, er hetzte gegen den Obersten Gerichtshof. Und nach der Wahl erkannte er den Sieg des linken Luiz Inácio Lula da Silva nie an. Stattdessen floh er vor der Machtübergabe nach Florida. Ganz in die Nähe seines großen Vorbildes. (…) Es liegt jetzt an Lula, wieder für Recht und Ordnung zu sorgen. Angefangen damit, die Gewalttätigen und diejenigen, die die Gewalt zugelassen haben, zur Rechenschaft zu ziehen. Aber nicht zuletzt auch damit, der Korruption endlich ein Ende zu bereiten und dem politischen System seine unabsprechbare Legitimität zurückzugeben.

“Badische Neueste Nachrichten” (Karlsruhe): Aber es wird auch zu klären sein, wie eigentlich der gerade seit einer Woche amtierende linksliberale Präsident die Gefahr so unterschätzen konnte, die von den rechtsradikalen Verschwörern ausging, die Bolsonaros These von der geraubten Wahl gekauft haben. Warum hat Lula so lange gezögert, die Camps aufzulösen, die landesweit vor den Kasernen einen Eingriff der Militärs forderten? Lulas Amtszeit hat noch gar nicht richtig begonnen, da steht sie schon vor einer der schwersten denkbaren Aufgaben. Die Vorkommnisse vom 8. Januar werden die gesamten vier Jahre begleiten, prägen und belasten. Die Angreifer haben das größte und wichtigste Land Lateinamerikas in die schwerste Krise seit dem Ende der Militärdiktatur vor 38 Jahren gestürzt. (…) Bolsonaro hat mindestens indirekt seine Anhänger zu dem Überfall motiviert.

“Freies Wort” (Suhl): Der rechtsextreme Politiker Bolsonaro wollte vor allem den Eindruck erwecken, dass nur er für “das wahre Brasilien” steht. Wohlkalkuliert machte er jene Farben (also zugleich die der Nationalflagge) zu seinem Markenzeichen. Jetzt allerdings sind sie zuhauf auf den erschreckenden Bildern der schweren Ausschreitungen in der Hauptstadt zu sehen – eine große Schande.

“Frankfurter Allgemeine Zeitung”:…Das Vorbild USA [ist] deutlich zu erkennen, so wie es schon in der Amtszeit des abgewählten Präsidenten Bolsonaro oft der Fall war. Wie Trump erkannte er seine Wahlniederlage nicht an, … wiegelte seine Anhänger auf und distanzierte sich am Sonntag erst nach Stunden von den Übergriffen …. Trump hat ein Modell zur Zerrüttung und Beseitigung demokratischer Prozesse geschaffen, das womöglich nicht nur in Brasilien Nachahmer finden wird. … In Brasilien wird es nun auf die Sicherheitskräfte ankommen. Bolsonaro hat es nach der Wahl nicht geschafft, das Militär auf seine Seite zu ziehen, aber er kann offenbar immer noch auf Sympathisanten im Sicherheitsapparat zählen. Eine Demokratie lässt sich gegen diesen nicht halten, deswegen ist es ein gutes Zeichen, dass es Polizisten gab, die dem Spuk am Sonntag ein Ende bereiteten.

“Süddeutsche Zeitung” (München): Die Demokratien müssen gegen das Gift von rechts alle Kraft aufbieten. Sie müssen noch konsequenter gegen Fake News vorgehen, weil sich, wie die Angriffe zeigen, zu viele Menschen in einer verqueren Parallelwelt eingerichtet haben. Und sie müssen jene, die den Staat angreifen, konsequent verfolgen. Es ist deshalb ein gutes Zeichen, dass Brasiliens neuer Präsident Lula angekündigt hat, Randalierer zur Rechenschaft zu ziehen, es gab schon mehr als zweihundert Festnahmen.

“Frankfurter Rundschau”: Die kommenden Tage werden die Hintergründe ans Licht bringen. Wie sehr orchestrierte der ehemalige Präsident Jair Bolsonaro aus dem Exil in Florida den Aufstand, wie sehr sind die Sicherheitskräfte und lokale oder regionale Politik beteiligt? Wie stark haben möglicherweise ultrarechte Großgrundbesitzer und die mafiösen Strukturen, etwa die Holzmafia, geholfen? Sie alle werden mit einem Präsidenten Lula da Silva Freiheiten und Geschäfte verlieren. Aber es wird auch zu klären sein, wie der linksliberale Präsident Lula da Silva die Gefahr so unterschätzen konnte, die von den rechtsradikalen Verschwörenden ausging, die Bolsonaros These von der geraubten Wahl gekauft haben. Warum hat Lula so lange gezögert, die Camps aufzulösen, die vor Kasernen einen Eingriff der Militärs forderten? Lulas Amtszeit hat noch nicht richtig begonnen, da steht sie schon vor einer der schwersten denkbaren Aufgaben. Die Vorkommnisse vom 8. Januar 2022 werden die gesamten vier Jahre begleiten und belasten.

“Leipziger Volkszeitung”: Fünf Stunden lang twitterte und kommentierte Bolsonaro die dramatischen Ereignisse nicht. Stattdessen wartete er ab und hoffte insgeheim offenbar, dass sich aus dem Sturm ein Flächenbrand entwickelt. Im entscheidenden Moment geschwiegen zu haben, wenn die Demokratie auf dem Spiel steht, ist sein historisches Versagen. Damit hat sich Bolsonaro für jede weitere politische Karriere disqualifiziert, ein Comeback auf demokratische Weise ist nun undenkbar.

“Allgemeine Zeitung” (Mainz): Ein Militärputsch mag durch das Eingreifen der Bundespolizei und die Auflösung der Protestlager in Brasília zunächst abgewendet zu sein. Die Armeeführung wird aber nicht nur sehr genau verfolgen, ob es der Regierung unter dem wiedergewählten Präsidenten Ignazio Lula da Silva gelingt, die Lage zu beruhigen. Es steht zu befürchten, dass das Ringen des autoritären mit dem demokratischen Lager hinter den Kulissen auch innerhalb der brasilianischen Militärführung ausgefochten wird. Der Kampf um die Zukunft der liberalen Demokratie und für die konsequente Rechtsstaatlichkeit ist noch lange nicht gewonnen. Er hat vielmehr erst begonnen.

Pöbelsturm um die Macht zu behalten

“Politiken” (Kopenhagen): Zwischen dem Kongresssturm in Brasilien und dem, der vor knapp zwei Jahren das Fundament der US-Demokratie erschütterte, gibt es eine gefährliche Verbindung. Machthaber bedienen sich Lügen, falschen Anschuldigungen über gestohlene Wahlsiege und eines Pöbelsturms, um die Macht zu behalten. Es ist ein arroganter Boykott der formellen Machtübergabe vom Verlierer zum Sieger, die wir früher vielleicht als triviale Zeremonie empfunden haben: die friedliche Machtübertragung.

In Brasilien hat Jair Bolsonaro, der “Trump der Tropen”, das gleiche Rezept (wie Donald Trump in den USA) benutzt, als er versuchte, die Macht in der Nummer sieben der bevölkerungsreichsten Länder der Welt zu stehlen. Er hat gelogen. Er machte falsche Anschuldigungen wegen Wahlbetrugs. Und er fand es wichtiger, bei Kentucky Fried Chicken in Florida Hühnchen zu essen, als an der formellen Machtübergabe an Präsident Lula teilzunehmen. Er hat den Boden für den Kongresssturm gedüngt, von dem er sich dann in letzter Minute distanzierte.

“Correio da Manhã” (Lissabon):  Der Putschversuch durch Tausende Anhänger von Jair Bolsonaro ist eine direkte Folge der Worte und Taten des früheren Präsidenten, der monatelang schamlos die Flamme der Revolte gegen einen angeblichen Wahlbetrug geschürt hat, der nur in seinem Kopf existiert. Sein Schweigen nach den Wahlen und die Tatsache, dass er die Niederlage nie öffentlich eingeräumt hat, hatten die Spannungen verschärft. Zu allem Übel hatte sich Bolsonaro, wenige Tage bevor der Kessel in die Luft ging, für den Fall der Fälle bereits in die USA abgesetzt. Wie seinem Freund (Donald) Trump droht aber auch ihm die Anklagebank für all den Schaden, den er seinem Land zugefügt hat.

“Los Angeles Times”:  Die USA waren lange ein Vorbild für die Welt, das Menschen in anderen Staaten dazu inspirierte, (…) stabile, robuste, demokratische Gesellschaften auf Grundlage der Rechtsstaatlichkeit zu bilden, die sich durch eine geordnete und friedliche Machtübergabe auszeichnen. Daher sollte es vielleicht nicht überraschen, dass einige Brasilianer am Sonntag versuchten, sich ein Beispiel an den USA zu nehmen. Es war das falsche Beispiel. (…) Es ist, als ob Brasiliens Randalierer dachten: “Nun, wenn die Nordamerikaner entgegen allen Fakten glauben können, was sie wollen, und auch danach handeln, warum sollten wir das nicht tun?

“Le Monde” (Paris):  (…) Wenn man aus dem amerikanischen Präzedenzfall eine Lehre ziehen sollte, dann die, dass man auf solche Affronts gegen die Demokratie nicht mit halben Maßnahmen reagieren kann – im Interesse der Allgemeinheit. In den USA hat die Unfähigkeit der Republikanischen Partei, sich vom Trumpismus zu distanzieren (…), sie um den erhofften Sieg bei den Zwischenwahlen gebracht.

Die Aufgabe vom (brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio) Lula da Silva, mit der Widerstandsfähigkeit der Bolsonaro-Anhänger zurechtzukommen, die die Mehrheit im Parlament stellen und in vielen brasilianischen Bundesstaaten das Sagen haben, war bereits schwierig. Nun ist er gezwungen, im Namen der Demokratie eine Gegenoffensive zu führen…

“El País” (Madrid): Das stundenlange Chaos hinterlässt nicht nur eine Spur der Zerstörung und des Vandalismus, sondern auch eine tiefe Wunde im Herzen der Demokratie. (…) Präsident (Luiz Inácio) Lula da Silva steht vor keiner leichten Aufgabe. Sein Vorgänger hat ein zerstörtes Land hinterlassen und die schwere Krise vom Sonntag hat diese Zerrüttung weiter vertieft. Um sie zu überwinden, muss Lula das Gesetz durchsetzen (er hat bereits den Gouverneur des Bundesdistrikts Brasilia entlassen) und die Schuldigen schonungslos bestrafen. Aber er muss auch an die Werte appellieren, die ihm den Wahlsieg ermöglicht haben und den schwierigen Weg der Überzeugung derjenigen Bürger weitergehen, die Opfer von Desinformation geworden sind und nicht mehr an die Demokratie glauben.

“de Volkskrant” (Amsterdam): Die Gewalttätigkeit der Demonstranten verdeutlicht die tiefe Spaltung der brasilianischen Gesellschaft. Präsident Lula steht nun vor der schwierigen Aufgabe, das Land zusammenzuhalten, während die Wirtschaft mit Problemen zu kämpfen hat und die Anhänger Bolsonaros eine starke Position im Parlament und auf regionaler Ebene haben.

Besorgniserregend war, wie leicht es den Demonstranten gelang, in das Parlament und andere offizielle Gebäude einzudringen, ohne dass sie von der Militärpolizei daran gehindert wurden. Zuvor gab es Bedenken hinsichtlich der Loyalität der Polizei. Sie gehen auf die Militärdiktatur zurück, die erst 1985 beendet wurde. Viele Offiziere sind auf Bolsonaros Seite. Die Regierung Lula hat nun die heikle Aufgabe, die Polizei zu disziplinieren, wobei die Gefahr besteht, dass ein hartes Durchgreifen noch mehr Widerstand von Rechtsextremisten provoziert.

Bolsonaro-Anhänger fordern einen Militärputsch

“NZZ” (Zürich): Bolsonaro-Anhänger, die ohne stichhaltige Beweise den Wahlsieg von Lula als gefälscht bezeichnen, fordern einen Militärputsch, um den Präsidenten aus seinem Amt zu entfernen. Sie spekulieren anscheinend darauf, mit landesweiten Unruhen der Armee einen Vorwand zum Eingreifen zu geben. Die Militärs würden dann, so der Plan, eine Übergangsregierung einrichten und nach einer gewissen Frist Neuwahlen ansetzen. (…) Innerhalb der Armee und der Polizei gibt es viele Offiziere, welche die Verfassung respektieren und sich nicht von den radikalen Bolsonaristen einspannen lassen. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese letztlich durchsetzen werden. Diese Hoffnung ist nicht ganz unbegründet. Von den Militärdiktaturen im 20. Jahrhundert haben die lateinamerikanischen Offiziere gelernt, dass es nicht ratsam ist, eine Militärherrschaft gegen den Widerstand großer Teile der Zivilgesellschaft durchzusetzen.

“The Times” (London): Den Anhängern des bei den Wahlen unterlegenen rechten Präsidenten Jair Bolsonaro, die die Erstürmung des US-Kapitols durch eine Trump’sche Horde am 6. Januar 2021 nachahmten, gelang es nicht, einen allgemeinen Aufstand auszulösen. Von der großen Mehrheit der Bevölkerung gemieden, suchten sie vergeblich nach Unterstützung durch das brasilianische Militär, das von Amerika bereits gewarnt worden war und dem das Putschgeschäft ohnehin seit Jahrzehnten fremd ist.

kng
DPA
AFP

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